Dienstag, 26. März 2024

Die Unfolgsamen

Es ist eine statistische Momentaufnahme, die zur umfänglichen Bestandsaufnahme soziokultureller Unterschiede hochstilisiert wurde: Zur Hochphase der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie wurde in Deutschland das Toilettenpapier knapp - in Frankreich dagegen rissen sich die Leute um Wein und Verhütungsmittel.

Das Regie/Skript-Duo Jean-Marc Barr & Pascal Arnold hat mit Die Unfolgsamen gewissermaßen das Filmdestillat zur französischen Hälfte eben dieser Beobachtung geschaffen: In ihrem 77-minütigen Drama erzählen sie von einem Hotel, das zur Brutstation des Widerstands gegen die Corona-Schutzmaßnahmen wird. Denn dort nehmen widerrechtlich Escortgirls und ein Escortboy weiterhin Kundschaft in Empfang. Erschöpfte Menschen bekommen Massagen. Eine Krankenschwester, die am Stadtrand lebt, nistet sich dort ein, um einen kürzeren Weg zur Arbeit zu haben. Ein Kind aus einer gewalttätigen Familie wird aufgenommen. Vor allem aber wird Alkohol getrunken, Beischlaf vollzogen, über Sex philosophiert und über alles erdenkliche gelästert.

Barr und Arnold folgen einerseits den Ratschlag "In der Kürze liegt die Würze": Ihr Film fängt in seiner knappen Laufzeit trotzdem pointiert das Gefühl des Eingesperrtseins ein. Die emotionale Last der Ungewissheit, wie hart und lang die Pandemie noch wird. Sich anstauende Gelüste und ausbreitende Existenzängste. Gleichwohl übertreiben sie es auf anderer Ebene mit der Eile: Durch die Vielzahl an Handlungsfäden bleiben einzelne narrative Motive zu knapp und fallen etwas zu seicht aus - da wäre es weiser gewesen, ein paar Passagen zu kippen und die verbleibenden dafür zu vertiefen.

Trotzdem ist Die Unfolgsamen eine der besseren expliziten, filmischen Thematisierungen der Corona-Pandemie. Dank einer unmittelbaren, unaufgeregten Bildsprache, wie aus dem Leben gegriffen agierenden Figuren, eines vielsagenden Querschnitts an pandemischen Beobachtungen (die thematisch darüber hinausreichende Implikationen haben) und der emotionalen Komplexität, dass Figuren ständig Maßnahmen brechen, obwohl sie ihre Sinnhaftigkeit nie leugnen.

Die Unfolgsamen ist bis zum 31. März 2024 in der arte-Mediathek abrufbar.

Samstag, 23. März 2024

Mediatheken-Tipps (23. März 2024)

Dancer in the Dark (Schwermütiges Musical, 2000) Der dänische Regie-Provokateur Lars von Trier nimmt sich der Musicalkunst an: Sängerin Björk spielt eine Fabrikarbeiterin, deren Sehkraft rapide abnimmt. Um ihrem Sohn zu helfen, dem dasselbe droht, spart sie eifrig für eine Operation. Diesem Seelenleid steht die Musical-Liebe dieser Mutter gegenüber, die hofft, in einer Sound of Music-Aufführung mitspielen zu können. Die Produktionsumstände sind unverzeihlich, der Film selbst ist aber eine denkwürdig-tragische, finster-elegische Genre-Übung mit atemberaubenden Liedern, einer begnadeten Björk und einer einprägsam-garstigen Ästhetik. Wie harsch und musikalisch kann ein Drama sein, bevor es zum Horror-Musical wird? arte-Mediathek, abrufbar bis zum 12. April 2024

Mommy (Tragikomödie, 2014) Wahrscheinlich der beste, definitiv der mich am intensivsten fesselnde Film des einst als Regie-Wunderkinds gefeierten, nun unablässig mit der Regie-Frührente drohenden Xavier Dolan: Mit stillem, melancholischem Humor versehen und voller kleiner Dramen des Alltags, erzählt Mommy von einer ungelenken Mutter-Sohn-Beziehung. Bedrückende Gefühle und kleine Momente banaler Freude wechseln einander ab, was Dolan klangästhetisch und vor allem visuell meisterlich einfängt. Haltet die Taschentücher bereit! ARD-Mediathek, abrufbar bis zum 16. April 2024

Transit (Drama, 2018) Christian Petzold versetzt Anna Seghers Exilroman Transit auf beklemmende Weise ins Heute: Politflüchtling Georg Seidler (Franz Rogowski) versteckt sich vor der Pariser Polizei - und gerät zufällig an die Papiere eines toten Schriftstellers. Er nimmt sie an sich, gibt sich fortan als er aus und reist nach Marseille. Dort begegnet er Marie (Paula Beer), der Frau des Mannes, dessen Identität er notgedrungen geklaut hat... Die Parallelen zwischen Gegenwart und Heute werden intelligent und aufwühlend aufgezeigt, Beer und Rogowski spielen brillant und es gibt eine tüchtige Prise Film-noir-Vibes in sonnig-kontemporären Bildern. arte-Mediathek, abrufbar bis zum 31. Mai 2024

Carpenter Brut: Hellfest 2023 (Konzertfilm, 2023) Musik, als würde man in einem John-Carpenter-Film oder einem Giallo festsitzen - bis der Knoten platzt und ein Cover aus einem 80er-Bruckheimer-Blockbuster (mit produktionshistorischem Horrorkino-Bezug) für den energiereich-heiteren Rausschmiss sorgt: Carpenter Brut steht für einen manchmal atmosphärischen, meist dröhnenden Hybriden aus Synthwave und Metal. Das knallt, wabert und wummst, dass es eine Freude ist! arte-Mediathek, abrufbar bis zum 16. Juni 2024

Spielerepublik Deutschland (Dokumentation, 2023) Innerhalb von 90 Minuten blickt diese Doku auf mehrere Brettspielentwickler*innen aus Deutschland: Was hat sie zu ihrem Beruf geführt, wie steht ihre Familie dazu und wie ist eigentlich das Verhältnis zur Konkurrenz in diesem Metier? Außerdem gibt es Einblicke in die Geschichte und Wirkung des Preises "Spiel des Jahres". ARD-Mediathek, abrufbar bis zum 30. November 2025

Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels (Hörspiel-Dekonstruktion, 1969) Was wie ein Informationsbeitrag über den Alltag eines Lastwagenfahrers beginnt, wird zu einem assoziativen Wust aus narrativem Hörspiel, introspektivem Gedankenwust und Nachrichtenschnipseln. So kreiert Wolf Wondratscheck einen dezent unwohlig-bedrückenden, teils aber auch absurd-komischen Klangteppich, der uns vor die Herausforderung stellt, dort Sinn und Ordnung herzustellen, wo nicht zwingend Sinn und Ordnung herrschen. (Hinweis: Das Hörspiel enthält schwere rassistische Sprache) ARD-Audiothek, mir unbekanntes Ablaufdatum

Warum Mediatheken-Tipps? Die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender sind ein unablässig sprudelnder Quell an sehenswerten Produktionen. Ob Spielfilm, Dokumentarfilm, Reportage, Konzertfilm, Serie, oder oder oder. Doch nicht nur, dass man da leicht den Überblick verlieren kann: Ich kenne einige Menschen, die den Mediatheken kaum oder gar keine Beachtung schenken. Mit dieser Artikelreihe möchte ich Orientierung bieten, ebenso wie Anreiz, sich vermehrt mit den Mediatheken zu befassen. Dazu gebe ich wöchentlich sechs Anschautipps.

Wieso sechs Tipps? Ich möchte, dass diese Artikelreihe händelbar bleibt. Für mich, damit ich sie neben meinen anderweitigen Verpflichtungen verfassen kann. Und für euch: Ich will euch nicht mit Anschautipps erschlagen. Sechs Tipps halte ich indes für umsetzbar: Selbst, wer alle Tipps ansprechend findet, kann sich täglich einen davon angucken, und hat dennoch bis zur nächsten Ausgabe der Reihe auch einen Tag "mediathekenfrei". 

Die Mediatheken-Tipps erheben selbstredend keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt viel mehr zu sehen, als ich hier Woche für Woche nennen könnte.